Terra Incognita
Kaum ein Thema hat in den letzten Jahren so viel mediale Aufmerksamkeit erfahren wie das Thema Flucht. Bilder von fliehenden Menschen sind in das kollektive Gedächtnis unserer Zeit eingegangen und mit Bezug auf das Mittelmeer ist ein ikonographisches Repertoire an Fotos entstanden, welches unsere Wahrnehmung des Konflikts prägt. Es sind alle denkbaren Bilder vom Meer, Schiffen, Rettungswesten, Schlauchbooten, Kindern, Rettern, Tränen, leidenden Menschen usw. entstanden.
Die folgenden Bilder haben nur sekundär mit dem Konflikt zu tun. Sie sind aufgeladen durch den Kontext in dem sie entstanden. Sie enthalten eine Lücke in der Repräsentation zwischen dem sichtbaren Abbild auf dem Foto und dem thematischen Inhalt.
Die Arbeit ist mein Versuch einer experimentellen Auseinandersetzung mit dem Thema Seenotrettung. Sie schließt für mich an fototheoretische Überlegungen der Dokumentarfotografie an und soll mit Fragen der Repräsentation spielen.
Die Sea-Watch 3 ist das dritte Schiff der gleichnamigen Seenotrettungsorganisation. Es wurde Anfang der 70er Jahre als Versorgungsschiff für Offshore-Plattformen gebaut. Nach mehrfachen Umbauten und unterschiedlichen Nutzungen erwarb es 2015 die Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ um es für die Rettung von Flüchtenden im Mittelmeer zu nutzen, später übernahm es der Verein Sea-Watch.
Ursprünglich angetreten war der Verein um Fliehende in Seenot zu beobachten und dann Hilfe zu koordinieren. Ihr Ziel war es eigentlich nicht selbst zu retten, sondern Sichtbarkeit für das Geschehen auf dem Meer herzustellen, damit staatliche Stellen handeln müssen. Nachdem diese sich zurückzogen, ging Sea-Watch selbst zur Rettung über. Seit dem ist die Organisation deutlich gewachsen und hat über 30 „Missionen“ durchgeführt, wovon einige jedoch nicht auslaufen konnten.
Nach der Mission mit Kapitänin Carola Rackete im Juni 2019, bei der 53 Menschen gerettet wurden, wurde das Schiff für 6 Monate – von den italienischen Behörden - im Hafen von Licata (Sizilien) festgesetzt. Die Organisation und die Kapitänin erhielten weltweite Aufmerksamkeit. Ein politisches Tauziehen mit dem rechten italienischen Innenminister Matteo Salvini begann. Die Zeit, bis das Schiff wieder auslaufen durfte, nutzte die Crew des Schiffes um Renovierungsarbeiten an Bord durchzuführen.
Terra incognita (lat. „unbekanntes Land“) ist ein historischer Begriff für Landmassen oder Gebiete, die seinerzeit noch nicht kartografiert oder beschrieben waren. Die Bezeichnung findet sich auf alten See- oder Landkarten jener Regionen, die noch unerforscht oder teilweise nur vermutetes Land waren. Auf vielen Karten wurden solche Gegenden mit Drachen oder anderen Fabelwesen ausgeschmückt. Später wurden diese Gebiete als „blank of the maps“ bezeichnet, was mit „weiße Flecken“ ins Deutsche übertragen wurde. In der Renaissance, dem 15. und 16. Jh. welches auch gerne als „Zeitalter der großen Entdeckungen“ bezeichnet wird, brachen Seefahrer wie Kolumbus, Vasco Da Gama oder Magellan auf, um die Welt zu erkunden und die letzten weißen Flecken von der Landkarte zu tilgen.
Einige Jahrhunderte später gibt es keine „weißen Flecken mehr“. Ein Suchraster aus Breiten- und Längengraden legt sich um die Welt. Ein abgestecktes Feld, nummeriert, kartiert und mit Zahlen versehen. Jeder Ort, jederzeit millimetergenau ausdrückbar und bestimmbar. Der unbekannten Welt wurde ihr romantischer, sentimentaler Schleier aus Mythen entrissen und sie wurde verfügbar gemacht. Aus dem Weltall, aus hunderten Kilometern Entfernung können wir jederzeit kleinste Objekte überall auf der Oberfläche des Planeten fotografieren und vermessen. Flugzeuge, Satelliten und Drohnen haben ein visuelles Regime über die Erdoberfläche etabliert und unsere Sicht auf die Welt erweitert.
Copernicus ist ein Satelliten gestütztes Erdbeobachtungsprogramm der Europäischen Union, welches 2014 in Betrieb ging. Unter dem Titel „Europe's eyes on Earth“ stellt der Dienst moderne Daten zu verschiedenen Themenbereichen, wie der Atmosphäre, dem Meer, dem Klimawandel und zum Notfallmanagement zur Verfügung. Dabei liefern die Satelliten auch Fernerkundungsdaten zur Grenzsicherung an die Europäische Grenzsschutzagentur (Frontex) und die Europäische Agentur für die Sicherheit des Seeverkehrs (EMSA). Erklärtes Ziel ist dabei die „Verringerung der Zahl der irregulären Migranten, die unerkannt in die EU einreisen“, sowie „die Verringerung der Zahl der Todesopfer irregulärer Migranten durch die Rettung von mehr Menschenleben auf See.“ Letzteres findet nicht statt.
Im Juli 2019 erhielt ich die Möglichkeit auf dem Seenotrettungsschiff Sea-Watch 3 zu fotografieren, welches - beschlagnahmt von den italienischen Behörden - im Hafen von Licata (Sizilien) lag. Die Zeit nutzt die Crew des Schiffes um Renovierungsarbeiten an Bord durchzuführen. In mühsamer Kleinarbeit wurden mit Spachteln und Schleifgeräten dicke Farbschichten von Deck gekratzt, um dieses neu zu lackieren.
Die Arbeit kombiniert abstrakte Fotos der rostigen Oberfläche der Sea-Watch 3, mit Satelliten-aufnahmen von Ländern rund um den Mittelmeerraum. Von Ländern, aus denen Menschen fliehen und in denen sie ankommen. Die abstrakten Lackformationen auf dem Schiff erinnern an Satellitenaufnahmen von unbekannten Landschaften. Dabei entstehen aus fotografischer Perspektive bis zum Verwechseln ähnliche Strukturen und auf den Fotos bleibt oft unklar, ob Land, Meer oder Spuren von dem Schiff zu sehen sind. Rostflecken werden zu Meeren oder Kratern, abbröckelnde Farbkanten verwandeln sich in Küstenlinien. Die abstrakten Farblandschaften werden zur unerforschten Welt (Terra incognita) und werfen die Frage nach dem parallel stattfindenden, aber nicht sichtbaren Geschehen im Mittelmeer auf.
Die Satellitenfotos stammen u.a. vom europäischen Erdbeobachtungsprogramm Copernicus, welches kombiniert mit Drohnen und Flugzeugen, die technologische Möglichkeit bietet, jederzeit Fotos des Mittelmeers zu erhalten. Dies wird jedoch nicht aktiv zur Seenotrettung genutzt, sondern stattdessen werden Rettungsschiffe von privaten Organisationen am Auslaufen gehindert.
Während die Sea-Watch 3 von Juli bis Dezember 2019 nicht auslaufen durfte, starben und verschwanden nach UNHCR Angaben 407 Menschen im zentralen Mittelmeer.